Erschienen im Steinburger Jahrbuch 1996

"Kriegswichtige Ahnenforschung"

während der NS-Zeit

Hans-Peter Wessel

Die Begriffe Arier und Sippe gehörten zum festen Sprachgebrauch der nationalsozialistischen Ideologen - und der damaligen Familienforscher. Sie belasten noch heute das Verständnis für Genealogie bzw. Familiengeschichte.

In vielen Familiennachlässen sind noch Ahnentafeln vorhanden, die über den Datenumfang der heutigen, von Standesämtern ausgegebenen Familienbücher hinausgehen. Es handelt sich meistens um Tafeln, die sich die Eltern oder Großeltern zum Zweck des Nachweises der "arischen Abstammung" mit kirchlichem Urkundenbelegen erstellen lassen mußten. Solche wiederentdeckten Ahnentafeln können - wie beim Verfasser selbst - Anlaß und Grundmaterial für weitergehende eigene Familiengeschichtsforschung sein. Die Hintergründe der massenhaft betriebenen "Sippenforschung" sind manchen Nachgeborenen nicht bekannt. Sie wird als harmloses Hobby der Nazis eingeschätzt - als nebensächlich im Vergleich zu den allgemein bekannten, offensichtlichen Ungeheuerlichkeiten zwischen 1933 und 1945. Bei vielen der Älteren, die die Zeit noch erlebt haben, besteht dagegen eine mehr oder weniger bewußte Abneigung gegen Ahnenforschung.

Grundlage für die Ariernachweise war die Rassengesetzgebung. Diese stützte sich auf die behauptete Überlegenheit der sogenannten arischen oder nordischen Rasse gegenüber allen Völkern fremder Abstammung. Die Menschheit wurde danach in taugliche und minderwertige "Rassen" aufgeteilt. Die Mehrheit der deutschen "Volksgenossen" wurde als arisch betrachtet. Eine Minderheit wurde von der Ideologie als "fremdrassig" ausgegrenzt. Hierzu gehörten insbesondere Juden und Zigeuner, die als Volksschädlinge verunglimpft wurden und deren "Ausrottung" schon vor der Machtergreifung geplant und kaum mißzuverstehen offen angekündigt worden war.

Wer heiraten wollte, wer als Lehrer oder sonstiger Beamter tätig war und es bleiben wollte, war genötigt, seine Abstammung wenigstens bis einschließlich zu den Lebensdaten der Großeltern nachzuweisen. Die Standesämter Schleswig-Holsteins konnten erst Belege nach 1874 liefern. Für die Zeit davor mußten nun die Pastorate und Kirchenbuchämter mit Urkunden von Taufen und Hochzeiten einspringen. Das waren natürlich keine "Rassennachweise", sondern nur Konfessionsnachweise. Aber das indirekte Verfahren reichte dazu aus, in Kirchenbüchern der beiden Hauptkonfessionen nicht nachweisbare Vorfahren als Verdächtige zu selektieren, da sie dann ja jüdischen Glaubens gewesen sein konnten. Allerdings konnten konvertierte Juden so auch direkt aufgespürt werden. Eine jüdische Großmutter bedeutete für den Probanden, daß er als ein nicht gesellschaftsfähiger 3/4-Arier und unzuverlässiges Subjekt angesehen werden konnte.

In Holstein begann die Arierforschung zu Amtszwecken gleich 1933. Nach der Gewaltergreifung der NSDAP fanden überall im März und April Scheinwahlen für die Gemeindevorsteher und ihre Stellvertreter statt. Dazu wurden noch die Formulare aus der Weimarer Zeit mit demokratischem Regulativ benutzt. In Wirklichkeit waren die meisten der wahlberechtigten Gemeindevertreter schon Mitglieder der NSDAP, deshalb konnte mancherorts "auf Zuruf" gewählt werden. Die wenigen Gewählten aus anderen Parteien wurden auf Vorschlag des Landrats oder örtlicher Größen trotz Beteuerung "nationaler Gesinnung" durch Benennung von Parteigenossen ersetzt. Es geschah formal korrekt im Rechtsverständnis der neuen Zeit durch landrätliche "Nichtbestätigung einer Wahl".

Alle Gewählten mußten einen Fragebogen ausfüllen. Neben Familienstand, Alter und Beruf mußten sie beantworten, ob sie jemals in der KPD, in einer ihrer Unterorgane, in der SPD, im Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, in der Deutschen Friedensgesellschaft, in der Liga für Menschenrechte oder in anderen internationalen oder pazifistischen Verbänden Mitglied gewesen seien. Erwartet wurde natürlich die Angabe der Mitgliedschaft in der NSDAP mit Eintrittsdatum. Auf vier weiteren Seiten kam dann der schwierigste Teil, nämlich die Abfrage der Lebensdaten der Eltern, aller vier Großeltern und bei Verheirateten auch die der Schwiegereltern. Dazu wurden die beglaubigten Urkunden der heimatlichen oder fremden Pastorate verlangt, wo die kirchlichen Amtshandlungen einmal stattgefunden hatten.

Manche taten sich schwer damit und bekamen die volle Macht deutscher Bürokratie und Perfektion zu spüren: Zum Beispiel mußte der Gemeindeschulze Fischer in S. im Kreis Steinburg dem Landrat Dr.W.Ide in Itzehoe "melden", daß der Pächter E.Göttsche, der als Ortsgruppenleiter vorgesehen war, trotz mehrfacher Aufforderung die "Nachweisung der arischen Abstammung" nicht eingereicht habe. Der Volksgenosse M.Kehl, der anstelle des nicht wahlbestätigten DNP-Mannes J.Ehrk den Vorsteher-Stellvertreterposten übernehmen sollte, mußte fast ein Jahr lang wegen fehlendem Ariernachweis angemahnt werden.

Ganz grotesk erging es H.Burseg, Besitzer eines "Erbhofs", der zum zweiten Schöffen der Landgemeinde S. ernannt werden sollte. Er konnte nicht "beschleunigt", wie gefordert, die eigene Geburtsurkunde beibringen. Er war als Sohn eines Berufsoffiziers in der Garnison Metz geboren, die inzwischen französisch geworden war. In einem Rechtfertigungsbrief an den Landrat beteuerte er, daß er langjähriger ehemaliger Offizier sei, seit 1.1.32 PG, außerdem Amtsleiter der NSDAP-Ortsgruppe und Bezirksbauernführer, ehemaliger Polizeihauptmann bei der Ordnungspolizei Hamburg, somit gewesener Staatsbeamter, und daß er bei der Partei und der Kreisbauernschaft als Arier gelte. Er bezeichnete sich selbst als "Vollarier". Der Landrat glaubte ihm und dispendierte ihn aufgrund eines Gesetzes vom 31.10.34 Min.Blatt Seite 1440 vom Nachweis und trug in die Akte ein: "Arische Abstammung als politischer Leiter nachgewiesen". Es ist denkbar, daß den drei beispielhaft Genannten mit ihren Arierproblemen die Ahnenforschung für alle Zeiten verleidet war.

Die holsteinischen Pastoren unterstützten die Ahnenforschung in der Regel ohne Widerspruch. Bereitwillig beteiligten sich z.B. die Pastoren der Probstei Münsterdorf an der Ahnensuche, hatten doch führende kirchliche Persönlichkeiten im Kreis die Machtergreifung des Führers freudig begrüßt und 1934 die ihr anvertrauten evangelischen Jugendschaften dem Sturmbannführer der steinburgischen Hitlerjugend "reibungslos überführt". Sie gehörten zur sogenannten landeskirchlichen "Mittelfront", die sich trotz des kriegsmäßigen Namens jeder Konfrontation enthielt, wie sie z.B. in anderen Gebieten von Geistlichen der "Bekennenden Kirche" gewagt wurde. Ohne die "pflichterfüllende" Mithilfe der Kirchen wäre der Arierwahn sehr beeinträchtigt gewesen.

Die spezielle Komponente dieses Wahnes, der Juden- und Slavenhaß, führte zur systematischen Ermordung von Millionen von Menschen in und außerhalb von Konzentrationslagern, und zwar vorwiegend durch SS-Zugehörige, die ihren Ariernachweis zwingend erbringen mußten. Sozusagen der "kleine Finger" der ausgestreckten Zeigehand war gegen das "Herrenvolk" selbst gerichtet. Der Rasse-Irr- oder Zweckglaube vergiftete manche Beziehungen zwischen "arischen Volksgenossen". Gerüchte, Verdächtigungen und Denunziationen rassistischer Art wurden freigesetzt, nur weil ein Gesicht dem vorgegaukelten blond-blauäugigen Idealbild widersprach. Viele kleine Beispiele dafür lassen sich in holsteinischen Landratsamtsakten jener Jahre nachlesen, wie z.B. der "kleine" Vorfall im Ort H. Der Ortsvorsteher J. Rathjens hatte 1936 mit einem fremd zugezogenen Hundehalter eine heftige Auseinandersetzung um die Höhe der Hundesteuer. Der junge Mann namens Bernitz trat ungewohnt selbstbewußt auf und beschwerte sich schriftlich beim Landrat über die drohenden und verdächtigenden Beschimpfungen seitens des "Schulzen". Der rechtfertigte sich vor dem Landrat damit, daß der junge Mensch mit seinem schwarzen Vollbart äußerlich als Jude angesehen werden könne. Er habe kein Gewerbe angemeldet und sei oft zu unbekanntem Zweck mit dem Fahrrad unterwegs. Es sei zu empfehlen, ihn durch die Staatspolizei beobachten zu lassen! -- J.Rathjens war zweifellos ein tüchtiger, allgemein respektierter Gemeindevorsteher ununterbrochen von 1920 bis 1946, PG erst seit 1933. Unter normalen Umständen hätte er das Mittel einer verdächtigenden "Anzeige" der dokumentierten Art vermutlich nicht benutzt.

Harmlos wirken derartige Episoden gegen die grausamen Folgen der nicht zu vergessenden Euthanasie-Gesetze gegen "unwertes Leben" unter den eigenen Volksgenossen. Biologisch orientierte Abstammungsforschung auf dem Niveau der Tierzucht gab die wissenschaftliche Rechtfertigung für die Tötung oder Zwangssterilisation abertausender Menschen, die sich gegen diese "Rassehygiene" nicht wehren konnten.

Zur Koordinierung und faktisch zur Beaufsichtigung der kirchlichen Beurkundungen von Ariernachweisen und Recherchen im Fall von Verdächtigungen wurden in Berlin das Reichssippenamt und in den Gauen Landessippenämter gegründet. Mit behördenmäßiger Gründlichkeit bis hin zur Gebührenordnung wurde die Zusammenarbeit mit den Kirchenbuchämtern geregelt. Das Landesamt unserer Provinz befand sich in Kiel im Haus der Provinzialverwaltung. Ihm untergegliedert waren die Sippenämter Husum für Nordfriesland, Heide für Dithmarschen und Steinburg, Mölln für Lauenburg und Pinneberg, sowie die Ämter Kiel und Wagrien. Assoziiert war das Amt für Sippenforschung in Apenrade der deutschen Volksgruppe in Nordschleswig. Ab April 1943 - also erst im Krieg - wurde der Kirchenarchivrat Dr.W.Hahn als Landesarchivrat in staatliche Pflicht genommen und ihm das Landessippenamt unterstellt. Damit sollten "die gemeinsamen Interessen der Provinzialverwaltung und der Landeskirche wahrgenommen werden". Hauptaufgabe war zweifellos die reibungslose Urkundenausstellung für die Zeit vor 1874. Aus Berlin kamen Vorgaben zum Schriftdenkmalsschutz und zur "Abgabepflicht" von Personendaten durch die Kirchenbuchämter. Die letztere Pflichtvorgabe dürfte das Verhältnis von Staat und Kirche in diesem Bereich zutreffend beschrieben haben. Übrige Dienstanweisungen wurden für die 14 hauptamtlichen Landesmitarbeiter intern erstellt und sollen sogar als Vorbild für andere Landesämter empfohlen worden sein.

Der eigentliche, denunziatorische Zweck der Ariernachweise war anscheinend den wenigsten Menschen bewußt. Um vor der eigenen Hautür zu kehren: Mein Großvater O. Thörner ließ sich den Ariernachweis besorgen, um einen Antrag zur Aufnahme in die Reichsschriftumskammer stellen zu können. Mein Vater W. Wessel beteuerte bei einer schriftlichen Bewerbung als Ingenieur ungefragt sein Ariersein.

Wie fragwürdig und lückenhaft das ganze Nachweissystem war, zeigt das Problem der Nachweise für Unehelichgeborene. Über die Erzeuger gaben weder die Personenstandsregister noch die Taufregister der Kirchen zuverlässig oder überhaupt Auskunft. Nur in Vormundschaftsakten war etwas zu finden. Weil diese in der Regel aber nach 10 Jahren geschlossen und vernichtet wurden, kam schließlich noch Anfang 1944 ein Erlaß des Reichsjustizministeriums, daß sofort alle Akten-Bestände der Vormundschaftsbehörden vor der Vernichtung zur familienpolitischen Auswertung als sippenkundliche Akten an die Landessippenämter abgegeben werden müßten. Die steinburgischen Akten sollten nach Heide geschickt werden, die pinnebergischen nach Mölln. Von letzteren ist noch bekannt, daß sie einen Umfang von mindestens 80 Kubikmeter hatten und daß sich das Amt im Februar 45 (!) für außerstande erklärte, eine Tranportmöglichkeit dafür aufzutreiben.

In engem Sinnzusammenhang mit der ideologisch motivierten Ahnenforschung stand der Doppelbegriff "Blut und Boden". Deshalb auch ein kurzer Einblick in diesen Teil der NS-Glaubenslehre:

Gleichzeitig mit der Verbreitung der Rassenideologie wurde überall Propaganda zur Pflege des heimatlichen Brauchtums und zur Schaffung von Dorfchroniken und Dorfsippenbüchern gemacht. Auf dem Deutschen Gemeindetag 1934 wurden "Orts- und Kriegschroniken" (!) als Mittel für vorbildliche Heimatgeschichtspflege empfohlen. Dazu gab es sogar einen ministeriellen Erlaß zur Erfassung "nennenswerter" Geschichtsereignisse für Gemeindechroniken. Für den Kreis Steinburg war z.B. als "Kreisvolksbildungswart" der Glückstädter Bürgermeister Vogt zuständig. 1940 organisierte er ein Treffen der Dorfbuchsachbearbeiter. Es war schwach besucht, überwiegend von Lehrern. Richtlinienvorschläge machte Schulrat a.D. Ehlers. Er mahnte, nichts zu überstürzen und regte an, hauptsächlich Material mit Bezug zum Kriegszustand zu sammeln.

Selbst der "Sekretär des Führers" (M.Bormann) sorgte sich um das kulturelle Leben auf dem Lande. In einem Rundbrief wurde die Landbevölkerung als Blutquell der Nation bezeichnet. Es müßte der Landflucht durch Pflege und Förderung ländlichen Brauchtums entgegengewirkt werden. Die Erweckung sollte unter unmittelbarem Einfluß der Partei als Mittel der politischen Führung bei Veranstaltungen und Festen geschehen. Die Verwurzelung der Bauern und Landarbeiter müsse vertieft werden. Weltanschaulich fremden Einflüssen, die besonders auf dem Lande die politische Durchsetzung des Nationalsozialismus erschwerten, müsse etwas entgegengesetzt werden. Man müsse sich von liberalistischen Vereinsformen in geschickter, taktvoller Weise freimachen.

Die Ahnennachweise wurden bis in die letzten Existenzwochen des Regimes in fast ungemindertem Umfang erstellt, wie es die Tätigkeitsberichte der Kirchenämter belegen. Von der Probstei Hütten wurden im 1.Quartal 1945 zum Beispiel noch 554 Anfragen zu Wehrmachts- und Forschungszwecken bearbeitet. Aus Kriegs- bzw. Personalgründen mußte Dr.Hahn schließlich im Herbst 1944 die Einschränkung der Arbeiten anordnen. Private Sippenforscher sollten nur noch bei kriegswichtigen Nachforschungen in den Sippenämtern arbeiten dürfen. Das gesonderte "Rasse- und Siedlungshauptamt SS - Ahnentafelamt" hat für SS-Leute verfügt, daß nur noch Urkunden bis zu den Großeltern beigebracht werden müßten, z.B. bei den befehlsmäßig im Heiratsfall einzureichenden Ahnentafeln. Darüber hinausgehende Forschungen würden vom Rasse- und Siedlungsamt selbst ausgeführt. Der Leiter des Landessippenamtes gab diese Erleichterung an die örtlichen Dienststellen bekannt.

Die "kriegswichtigen" Arbeiten waren auch ein Thema bei der letzten Dienstbesprechung der Sippenämter in Eutin im Januar 1945.

Es klingt irreal, daß der Landessippenamtsleiter noch im Juli 1945 wirkte, weiter Berichte der Unterämter anforderte und diese zur Wiederaufnahme der Forschungen ermahnte. Es sollte nun verstärkt Namensforschung betrieben werden. Offensichtlich hatte man das kuriose Amt eine ganze Weile vergessen. Als Dr.Hahn schließlich der Militärverwaltung Bericht erstatten mußte, schrieb er an den Beauftragten, daß die wesentlichen Arbeitsbelege bei der Zerstörung des Landeshauses am 26.8.1944 auch vernichtet worden seien. Die Aufgaben und Arbeiten des Landessippenamtes seien gewesen: allgemeine Familienforschung, bäuerliche Höfeforschung, Wanderungsbewegungen, biographische Forschungen und (an letzer Stelle!) Urkundenausstellung nach dem geltenden Reichsgesetz. Rassefragen seien nicht bearbeitet worden. Nur ein einziger Fall der Überprüfung eines vermeintlichen Zigeuners sei ihm bekannt. Die Arbeit sei von Partei-Einflußnahme freigehalten worden, da sie störend für die Zusammenarbeit von Provinzial- und Kirchenverwaltung gewesen wäre.-----

Daß viele Menschen den Zwang und den schändlichen Zweck der nationalsozialistischen Ahnenforschung gefühlt oder auch erkannt haben, fand seinen Ausdruck in der anfangs erwähnten Aversion mancher Älterer gegen Familienforschung überhaupt. Ähnlich mißbraucht wurde auch der natürliche Heimatsinn und die ihn ausdrückenden Begriffe. Man erinnere sich an den verlogenen "Germanen"-Kult am Beispiel eines bronzezeitlichen Grabes in Itzehoe.

Die Arierforschung und die weitergehende Sippenforschung war ein pseudowissenschaftliches Hilfsmittel zur Rechtfertigung der Ausgrenzung und Zerstörung alles scheinbar "Fremden"- und somit im herbeigeführten Krieg auch "kriegswichtig", wie von den Ideologen selbst so bezeichnet. Es fanden sich willige, möglicherweise überzeugte Helfer, die mehr taten als "nur ihre Pflicht". Der nicht nur etymologische Zusammenhang des Begriffs "Sippe" mit Sekte und Selektieren war ihnen nicht bewußt, ebenso nicht die Infamie der "Sippenhaft".

Natürlich wurde die forschende Erstellung von Ahnennachweisen nicht von den NS-Weltanschaulern erfunden. Schon seit Jahrhunderten ließen sich Adel und städtische Patriziate ihre Pivilegien, Stand und Prestige genealogisch belegen und sichern. Daraus entwickelte sich schon vor der Jahrhundertwende auf breiterer Basis eine Familiengeschichtsforschung in Teilen des Bildungsbürgertums. Schlechten Beispielen allgemeiner Geschichtsdarstellung folgend, wurden in manchen Familienchroniken die Vergangenheit idealisierend glorifiziert oder zumindestens unkritisch behandelt. So fanden die NS-Rassisten einen schon aufbereiteten Boden vor, der sich nutzen ließ.

Inzwischen sind neue Generationen herangewachsen. Die sozialen Verhältnisse haben sich grundlegend geändert. Nicht mehr Seßhaftigkeit ist unbedingt vorteilhaft, sondern Mobilität ist notwendig. Und es gibt erfreulichererweise wieder Menschen, die sich aus eigenem Antrieb für die Geschichte ihrer Lebensregion und ihres Wohnortes interessieren. Unzählige neue Ortschroniken, auch solche ganz kleiner Gemeinden beweisen es. Sie behandeln in der Regel das gesamte Lebensspektrum, denn sie sind nicht mehr wie früher nur von einem einzelnen, amtsbefangenen Lehrer oder Pastoren verfaßt. Und es gibt auch Familienforscher, die sich ernsthaft mit der ganzen Geschichte der Vorfahren, d.h. einschließlich der jüngsten Geschichte befassen. Es genügt ihnen nicht, nur kirchenbuchbelegter "Arier" zu sein. Die Geschichte der Vorfahren kann voller Überraschungen sein, auch wenn die Forschung nicht zur Abstammung vom Hochadel führt. Die Erforschung der Familiengeschichte in ihrer ganzen Vielfalt, mit Höhen, Mittelmäßigkeiten und Tiefen kann die eigene soziale Sensibilität für die Gegenwart fördern.


Erschienen im Steinburger Jahbuch 1996

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