Vortrag A4

Die deutsche Wirtschaftselite im 20. Jahrhundert

Prof. Dieter Ziegler

Der Vortrag fragt nach den Mechanismen der hohen Selbstrekrutierungsquote der deutschen Wirtschaftselite in einer Zeit, als Familienunternehmen (und deren Vererbung) als Basis für eine Eliteposition rasant an Bedeutung verloren. Spätestens seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts ersetzten zunehmend Manager ohne nennenswerten Anteilsbesitz am Unternehmen die Eigentümerunternehmer, welche die Wirtschaftselite im 19. Jahrhundert dominiert hatten. Parallel zu dieser Entwicklung vollzog sich ein Akademisierungsprozess, dem sich auch die Eigentümerunternehmer nicht entziehen konnten. Während es im 19. Jh. noch üblich war, dass ein Unternehmer seine Söhne zu befreundeten Unternehmen (insbesondere im Ausland) in die „Lehre“ schickte und sie anschließend in die eigene Firma holte, um den ältesten als seinen Nachfolger aufzubauen, wurden im 20. Jh. auch Unternehmersöhne auf die Universität geschickt, wo sie in der Regel Jura studierten. „Old Boy“-Netzwerke entstanden anders als in Großbritannien und Frankreich dadurch in Deutschland nicht, da es keine von der Wirtschaftselite bevorzugte Universität wie Oxford und Cambridge in Großbritannien oder die Grandes Écoles in Frankreich gab und auch das Privatschulwesen keinen mit den Clarendon Nine wie Eton oder Harrow vergleichbaren Status besaß.

Parallel zu dieser Entwicklung vollzog sich eine Akademisierung der Unternehmensleitungen. In den Manager geführten Großunternehmen hing der Aufstieg wesentlich mehr als bei den Eigentümerunternehmern von „Leistung“ statt vom „Blut“ ab. Deshalb wäre eigentlich spätestens im letzten Viertel des 20. Jh. eine „Demokratisierung“ der Wirtschaftselite zu erwarten gewesen, wie es auch für andere Elitegruppen, etwa die politische Elite, kennzeichnend ist. Denn mit der Bildungsrevolution der sechziger Jahre bekamen auch die Nachkommen solcher sozialer Schichten die Chance auf eine höhere Bildung, die bisher davon weitgehend ausgeschlossen waren. Tatsächlich ist ein solcher „Demokratisierungsprozess“ in der Wirtschaftselite am Ende des 20. Jh. jedoch nicht zu beobachten gewesen. Nach wie vor gilt die Bewertung des Soziologen Wolfgang Zapf aus den sechziger Jahren, wonach die wirtschaftliche Elite die ”nächst den Kirchen­füh­rern ... am wenigsten flexible Elitegruppe“ in Deutschland gewesen sei. Der Vortrag fragt auch nach den Gründen für diesen Befund, die nach wie vor bei den Familien zu suchen sind, nicht jedoch in der Vererbung materiellen Kapitals (wie im 19. Jh.), sondern bei bestimmten Sozialisierungsformen, die für bestimmte soziale Klassen charakteristisch sind und die nicht so einfach angelernt werden können wie das durch Schule und Universität vermittelte „Wissen“.


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