Vortrag F3

Der Wandel der Genealogie: Genealogie historisch betrachtet anhand lippischer Beispiele

Dr. Bettina Joergens

Genealogie sei die Untersuchung der „auf Abstammung beruhenden Zusammenhänge zwischen Menschen. … Die Definition soll und will sowohl die individuellen wie die ‚gentilizischen’ (sippenmäßigen) Abstammungsverhältnisse erfassen…“, so Ahasver von Brandt in seinem Standardwerk zur „Einführung in die historischen Hilfswissenschaften“ (1989). Diese Definition ist von einem positivistischen Geschichts- und Quellenverständnis geprägt, wie es im späten 19. und beginnenden 20. Jahrhundert vorherrschend war.

Bis heute orientieren sich die meisten Familienforscher an der um 1900 festgelegten, engen Vorstellung von „richtiger Genealogie“, obwohl insbesondere die im 18. Jahrhundert zahlreich veröffentlichten Lehrbücher über genealogisches Forschen und vielfältige genealogische Darstellungen aus den letzten Jahrhunderten eine weitaus größere Variation belegen.

Je nach Bedeutung einer genealogischen Tafel für den Auftraggeber, je nach historischer Situation und je nach Kultur des Aufschreibens weichen Darstellungen von Verwandtschaftszusammenhängen und den darin enthaltenen Informationen voneinander ab. So dienten insbesondere im Mittelalter Ahnenreihen, Regentenlisten, Chroniken oder Aufschwörungstafeln häufig der Repräsentation von Herrschaft, deren Konstitution und Kontinuität sowie als Berechtigung, etwa zum Zugang zu Stiftspfründen. Seit dem 15. und 16. Jahrhundert genügten meist Ahnenreihen nicht mehr, weshalb man etwa in Stammbüchern und umfangreichen Chroniken ausführlich die Verwandtschafts- und Besitzverhältnisse sowie wesentliche Ereignisse einer Familie darlegte. In der Frühen Neuzeit erfuhren ebenso Verwandtschaftstafeln eine enorme Erweiterung, um die Familie „vollständig“ und alle Familienmitglieder – ob lebend oder tot – gleichzeitig zu präsentieren. Diese umfangreichen und bisweilen unübersichtlichen Tafeln dienten nicht selten der Klärung von Erbfolgen. Gerade hierbei konnten – anders als bei den meisten Regentenlisten – weibliche Verwandte nicht ausgelassen werden. Genealogische Darstellungen aus der Frühen Neuzeit können häufig als nicht abgeschlossen gelten: Zum einen werden etliche von ihnen immer weiter geführt und verändert. Zum anderen enthalten sie zahlreiche Verweise auf das Familienarchiv und weitere Dokumente, womit sie in einen größeren Kontext der familiären Schriftgutverwaltung gestellt werden. So ist es auch kein Zufall, dass der Archivar des Lippischen Landesarchivs, Johann Ludwig Knoch, sowohl Verwandtschaftstabellen der fürstlichen Familie erstellte als auch die Unterlagen des Hauses der zur Lippe ordnete und verwaltete. Dieses Beispiel zeigt, wie sehr die Geschichte des Archivwesens, der Archivwissenschaft und der Genealogie miteinander in Verbindung stehen: Es ist die Geschichte der Systematisierung und Ordnung des Wissens in einer Zeit zunehmender Schriftlichkeit.

Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert wurde die Genealogie unter dem Einfluss der Naturwissenschaften zur Wissenschaft erhoben und in enge Definitionen geführt. Genealogie in Verbindung mit der Biologie wurde mehr und mehr auf die gesamte Bevölkerung bezogen, nicht mehr nur auf adelige Familien. Die Genealogie ist auch seitdem nicht mehr nur Methode für die Geschichtswissenschaft, sondern wird ebenso in der sich herausbildenden Soziologie, in der Medizin und der Biologie angewandt und erweitert. Die Verschmelzung von naturwissenschaftlichen, genetischen Denkweisen und Gesellschaftswissenschaften hatte bereits im 19. Jahrhundert auch einen rassistischen Impetus.

Die Betrachtung der Geschichte der Genealogie, der verschiedenen Lehrmeinungen und genealogischen Darstellungen können einen Ausgangspunkt für eine Reflexion der heute praktizierten Genealogie und ihr Verständnis von „Familie“ bilden.


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