Festvortrag zur Eröffnung des Genealogentages

Eine Stadtgesellschaft im Umbruch - Bielefeld im Zeitalter der Industrialisierung

Prof. Dr. Reinhard Vogelsang

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts zeigt sich Bielefeld als eine Stadt, in der Kaufleute und Handwerker das öffentliche Leben und das wirtschaftliche Geschehen bestimmen, politisch geprägt von kon­sti­tu­tio­nellen und demokratischen Staatsvorstellungen, und das heißt: von einem kritischen Gegensatz zur preußischen Monarchie. Grundlage des Wohlstands ist traditionell das Leinengewerbe. Auf dem dicht besiedelten Land arbeiten Spinner und Weber für den städtischen Markt. Ihre Produkte werden von Bielefelder Kaufleuten weltweit verkauft.

Allerdings befindet sich die Wirtschaft in einer Phase des Umbruchs. Die Konkurrenz der Baumwolle und die Mechanisierung der Leinenproduktion vor allem in England zwingen zur Abkehr von der herkömmlichen Weberei am Handwebstuhl. Mit der Gründung von zwei großen Spinnereien und einer mechanischen Weberei wird – auf der Basis des zuvor verdienten Vermögens – von den Bielefelder Kaufleuten der Schritt ins Fabrikzeitalter getan. Es folgen weitere Fabrikgründungen „am Leinenfaden“. Das produzierte Leinen wird in zahllosen großen und kleinen Wäschefabriken weiterverarbeitet. Bielefelder Wäsche ist bald ein Markenbegriff.

Die Produktion von Nähmaschinen folgt. Aus ihr geht die Fabrikation von Fahrrädern, Fahrzeugen und Autos hervor. Sie wiederum benötigt vor allem Werkzeugmaschinen, die ebenfalls am Ort produziert werden, desgleichen Dampfmaschinen für den Antrieb der vielen mechanischen Arbeitsmaschinen.
Aufgrund eines starken Geburtenüberschusses, dann auch durch einwandernde Arbeiter steigt die Bevölkerungszahl sehr schnell. Wenn auch die Fluktuation recht groß ist, lässt sich ein genügend großer Anteil in der Stadt und im Umland auf Dauer nieder. Dennoch kommt es nicht zum Bau von Mietskasernen. Typisch für Bielefeld und das Ravensberger Land ist die weiträumige Ansiedlung, allerdings verbunden mit weiten Wegen zur Arbeitsstätte und entsprechend langen Arbeitstagen. Es entsteht eine neue Gesellschaftsschicht, die Arbeiterklasse. Ihr hauptsächliches Kennzeichen ist starke Verbundenheit mit Stadt und Land und eine eher konservative Grundhaltung. Um die Wende zum 20. Jahrhundert macht die Arbeiterschaft etwa die Hälfte der Stadtbevölkerung aus. In der Sozialdemokratischen Partei, in den Gewerkschaften und in zahlreichen Vereinen entsteht eine eigene Arbeiterkultur.

Wegen des Dreiklassenwahlrechts bleibt das Bürgertum in der Stadtpolitik die bestimmende Kraft; mit Stiftungen und Spenden unterstützt es repräsentative soziale Einrichtungen. Für die Interessen der Arbeiterschaft fehlt ihm hingegen oft das Verständnis. Und dennoch gelingt eine Annäherung, weil die Führer der Arbeiterbewegung stark von bürgerlichem Selbstbewusstsein und bürgerlicher Kultur geprägt sind. Gleichwohl wird der Gegensatz zwischen den Gesellschaftsschichten erst durch die Erfahrung des Ersten Weltkriegs zum Teil überwunden.


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